Die NFL-Saison 2025 hat gerade erst Fahrt aufgenommen – und schon in Week 2 kam es zum ersten Overtime-Krimi. Die New York Giants und die Dallas Cowboys lieferten sich ein wahres Offensiv-Feuerwerk, das nach regulärer Spielzeit 37:37 stand. In der Verlängerung gewannen die Giants den Münzwurf – entschieden sich jedoch überraschend für den zweiten Ballbesitz. Beide Teams blieben in ihrem ersten Drive ohne Punkte, ehe die Cowboys mit einem 46-Yard-Field Goal vier Sekunden vor Schluss den Sieg holten.
Damit stellt sich eine spannende Frage: Sollten NFL-Coaches in der Overtime den Ball zuerst oder lieber als Zweites nehmen? ESPN hat sich intensiv mit dieser Problematik befasst und sogar Analysen von neun NFL-Teams eingeholt.
Von Sudden Death zu neuen Regeln
Zur Erinnerung: Zwischen 1974 und 2011 galt in der NFL das „Sudden Death“-Prinzip – das erste Team, das in der Overtime punktete, gewann sofort. Der Münzwurf war also ein klarer Vorteil: Wer den Kickoff bekam, hatte die deutlich besseren Siegchancen.
Auch nach der Regeländerung 2012, die dem zweiten Team nach einem Field Goal noch eine eigene Chance gab, blieb die optimale Entscheidung meist, den Ball zuerst zu nehmen – schließlich konnte ein Touchdown das Spiel sofort beenden.
Doch 2025 ist alles anders: Zum ersten Mal gelten die bisher nur für die Playoffs bekannten Regeln auch in der Regular Season. Ein Touchdown des ersten Teams beendet die Partie nicht mehr sofort. Beide Offenses bekommen garantiert eine Possession – es sei denn, die Defense erzielt Punkte oder ein Drive dauert die kompletten zehn Overtime-Minuten. Bleibt es nach beiden Drives unentschieden, gilt „Next Score Wins“. Endet auch die Verlängerung ohne Entscheidung, steht ein Unentschieden.
Das Super Bowl-Beispiel
Wie komplex diese Entscheidung sein kann, zeigte sich bereits in Super Bowl LVIII zwischen den Kansas City Chiefs und den San Francisco 49ers. Damals wählten die 49ers den ersten Ballbesitz – eine Entscheidung, die nach der Niederlage stark kritisiert wurde. Viele Spieler, Coaches und Analysten waren sich nicht einig, wie die neue Dynamik überhaupt zu bewerten ist.
Genau deshalb befragte ESPN die Analytics-Abteilungen von neun NFL-Teams. Das Ergebnis: Der Münzwurf hat durch die neuen Regeln eine strategische Dimension bekommen, die Coaches künftig mehr Kopfzerbrechen bereiten dürfte – eine klare Antwort gibt es bisher nicht.
Coin Toss in Overtime: Ball zuerst oder lieber abwarten?
Die zentrale Frage lautet: Was sollten Teams tun, wenn sie den Münzwurf gewinnen? ESPN hat die Analytics-Abteilungen von neun NFL-Teams befragt – mit durchaus unterschiedlichen Ergebnissen:
- 3 Stimmen: Leichte Tendenz zu erster Ballbesitz, aber Gegnerfaktoren können zweiten Ballbesitz sinnvoll machen
- 3 Stimmen: Leichte Tendenz zu zweitem Ballbesitz, abhängig vom Matchup auch erster Ballbesitz denkbar
- 1 Stimme: Fast immer erster Ballbesitz
- 1 Stimme: Fast immer zweiter Ballbesitz
- 1 Stimme: Echte 50/50-Situation
Einfluss der Touchback-Regel
Eine der wichtigsten Neuerungen betrifft die Kickoff-Touchbacks: Statt wie bisher an der 30 startet das Receiving-Team nach einem Touchback nun an der 35-Yard-Linie. Dieser scheinbar kleine Unterschied verändert die Wahrscheinlichkeiten erheblich.
- Bleibt die Touchback-Rate bei rund 64 % (wie 2024), liegt die Siegchance des ersten Teams bei 53,6 %.
- Sinkt sie auf 40 %, reduziert sich der Wert auf 52,6 %.
- Fällt die Quote auf 10 %, bleibt immerhin noch ein Vorteil von 50,9 %.
Der Grund: Startet der erste Drive an der 35, ist ein Punt oder Turnover weniger „teuer“, da der Gegner weiter hinten beginnen muss. So verbessert sich die Feldposition für ein mögliches drittes Ballbesitz-Szenario.
Interessant: Das Team, das den Kickoff ausführt, hat Kontrolle darüber, ob es überhaupt zu einem Touchback kommt – es könnte bewusst kürzer kicken, um Return-Situationen zu erzwingen. Gegen Kicker, die sonst fast immer Touchbacks produzieren, wäre daher erster Ballbesitz attraktiver.
Pro und Contra
Vorteil zweiter Ballbesitz:
- Man weiß genau, was das erste Team gemacht hat.
- Nach einem Touchdown muss man aggressiver spielen – und kann schon auf 3rd Down Risiko gehen.
- Bleibt der Gegner ohne Punkte, reicht schon ein Field Goal zum Sieg.
Vorteil erster Ballbesitz:
- Man bekommt automatisch den dritten Ballbesitz, sollte es so weit kommen.
- Ein langer Drive kann die Zeit massiv verkürzen und Druck auf den Gegner aufbauen.
- Kommt es nach zwei Drives zu einem Remis, startet das erste Team sofort ins Sudden Death.
Was bedeutet das?
Die Tendenz geht meist zu erster Ballbesitz, aber je nach Gegner und Kickoff-Situation kann auch der zweite Ballbesitz die klügere Wahl sein. Vor allem die neue Touchback-Regel macht den Münzwurf 2025 zu einer echten strategischen Waffe.
Was werden Teams tatsächlich wählen?
Die ESPN-Umfrage zeigt ein spannendes Bild:
- 7 Stimmen: Meistens (aber nicht immer) wird das Team den zweiten Ballbesitz nehmen
- 2 Stimmen: Meistens (aber nicht immer) wird das Team den ersten Ballbesitz nehmen
Das Interessante: Einige Teams, die den ersten Ballbesitz eigentlich für die bessere Option halten, erwarten trotzdem, dass die Mehrheit der NFL-Teams den zweiten Ballbesitz wählt.
Warum das so sein könnte? Viele Coaches sind eher konservativ in ihrer Spielphilosophie. Sie schätzen die vermeintliche „Sicherheit“, im zweiten Drive genau zu wissen, was benötigt wird – selbst wenn die Modelle den ersten Ballbesitz leicht im Vorteil sehen. Anders gesagt: Das Risiko, am Ende „blind“ zu spielen, schreckt einige Entscheidungsträger mehr ab als die Chance auf einen kleinen mathematischen Vorteil.
Lehren aus Super Bowl LVIII
Ein weiterer spannender Aspekt der ESPN-Umfrage:
- 6 Stimmen: Ja, der Ausgang des Chiefs-49ers-Super Bowls wird die Entscheidungen in 2025 beeinflussen
- 2 Stimmen: Nein, keine Auswirkungen
- 1 Enthaltung
Zur Erinnerung: In Super Bowl LVIII gewannen die 49ers den Münzwurf und entschieden sich für den ersten Ballbesitz. Das Ergebnis ist bekannt: San Francisco musste sich mit einem Field Goal zufriedengeben – und die Chiefs marschierten im Gegenzug zum game-winning Touchdown.
Nach dem Spiel wurde bekannt, dass die Chiefs von Shanahans Wahl überrascht waren. Analytics-Abteilungen sind sich zwar weiterhin uneins, aber der mediale Druck, den der 49ers-Coach nach dieser Entscheidung einstecken musste, könnte einen nachhaltigen Effekt haben. Kein Head Coach möchte im „Shanahan-Spotlight“ landen – selbst wenn die Zahlen für den ersten Drive sprechen.
Overtime in der Regular Season: Vorteil erster oder zweiter Ballbesitz?
Ein entscheidender Unterschied zu den Playoffs: In der Regular Season dauert die Overtime nur 10 Minuten – und ein Spiel kann im Unentschieden enden. Doch was bedeutet das für die Strategie?
Die Antworten der befragten Analytics-Teams:
- 5 Stimmen: Vorteil zweiter Ballbesitz
- 4 Stimmen: Vorteil erster Ballbesitz
Beide Sichtweisen haben Argumente auf ihrer Seite:
- Pro erster Ballbesitz: Das Team kann den Drive bewusst in die Länge ziehen, viel Zeit von der Uhr nehmen und im Idealfall mit Punkten abschließen. Das lässt der zweiten Offense nur wenig Restzeit, um zu reagieren.
- Pro zweiter Ballbesitz: Durch das verkürzte Zeitfenster sinkt die Wahrscheinlichkeit einer dritten Possession – also genau jenes Vorteils, den das erste Team normalerweise hätte.
Laut ESPNs Modell gibt es praktisch keinen Unterschied zwischen Playoff- und Regular-Season-Format. Die Tendenz verschiebt sich minimal in Richtung zweiter Ballbesitz, aber so knapp, dass es auch schlicht statistisches Rauschen sein könnte.
Welche Faktoren beeinflussen die Entscheidung?
Die ESPN-Umfrage zeigt: Coaches und Analytics-Teams denken bei der Frage „erster oder zweiter Ballbesitz?“ längst nicht nur an Statistik. Mehrere Matchup-Faktoren spielen eine Rolle:
- Relative Stärke von Offense vs. Defense (8 Stimmen) – Hat man selbst die dominierende Offense oder will man lieber abwarten, ob die Defense des Gegners den Ton angibt?
- Wetterbedingungen (6 Stimmen) – Wind oder Regen können Kicks und lange Drives stark beeinflussen.
- Zwei-Punkte-Strategie (5 Stimmen) – Wer als zweites Team den Ball bekommt, hat den Vorteil: nach einem Touchdown kann man direkt für zwei gehen und das Spiel beenden.
- Vierte-Versuch-Entscheidungen (4 Stimmen) – Das zweite Team weiß genau, ob es aggressiv bleiben muss. Das erste Team muss knifflige Calls im „Graubereich“ treffen, bei denen ein gescheiterter Versuch sofort die Niederlage bedeuten könnte.
- Wert eines Unentschiedens (4 Stimmen) – In seltenen Szenarien kann auch ein Tie wertvoll sein, z. B. für die Playoff-Chancen.
- Faktor Müdigkeit (2 Stimmen) – Überraschend: Kaum Gewichtung. Eigentlich könnte man annehmen, dass Coaches die Defense entlasten wollen – oder eine erschöpfte gegnerische Defense sofort attackieren. Offenbar wird dieser Aspekt in der Praxis weniger berücksichtigt, als man denkt.
Der „Go for Two“-Code
Ein zentrales taktisches Element betrifft die 2-Point-Conversion:
- Erzielt das erste Team einen Touchdown, tritt es fast immer den Extrapunkt.
- Erzielt das zweite Team ebenfalls einen Touchdown, muss es für zwei gehen – ansonsten würde es dem Gegner eine Sudden-Death-Chance schenken.
Nur in absoluten Ausnahmeszenarien – etwa wenn ein Unentschieden für die Tabelle Gold wert wäre – könnte ein Team von dieser Logik abweichen.
Erste Possession: Geht man direkt für Zwei?
Eine Frage, die Fans und Analysten gleichermaßen bewegt: Sollte das erste Team nach einem Touchdown sofort die 2-Point-Conversion versuchen?
Die klare Antwort der NFL-Analytics-Community: Nein.
- 8 von 9 befragten Teams sagten, sie würden in dieser Situation niemals für zwei gehen.
- Nur ein Team hielt es für eine Option.
Warum nicht?
- Kickt das erste Team den Extrapunkt, hängt sein Sieg im Falle eines gegnerischen Touchdowns davon ab, ob es die 2-Point-Conversion des Gegners stoppen kann – grob geschätzt eine 50:50-Chance oder leicht besser.
- Geht das erste Team für zwei und scheitert, ist es fast sicher raus. Denn das zweite Team müsste nur noch ein Field Goal kicken oder beim Touchdown den sicheren Extrapunkt nehmen.
- Selbst bei Erfolg hat man noch keine Garantie: Das zweite Team könnte ebenfalls für zwei gehen und wieder ausgleichen.
Kurz gesagt: Der PAT nach dem ersten Touchdown ist die deutlich sichere Option – und solange kein außergewöhnliches Szenario (z. B. ein wertvolles Unentschieden für die Playoff-Quali) vorliegt, wird wohl kaum ein Coach das Risiko eingehen.
Wind als X-Faktor im Overtime-Gameplan?
Eine eher ungewöhnliche, aber keineswegs abwegige Überlegung: Könnte ein Team beim Münzwurf die Seitenwahl bevorzugen – und damit Wind und Richtung über Ballbesitz stellen?
Die Antworten der NFL-Analytics-Umfrage:
- 5 Teams sagten Nein, sie würden immer Ballbesitz (1st oder 2nd) bevorzugen.
- 3 Teams sagten Ja – in engen Fällen könne der Wind ausschlaggebend sein.
- Ein Team enthielt sich.
Warum könnte das Sinn machen?
- Frühe Saison: Noch wenig Daten zu Kicking-Tendenzen und Touchback-Raten → äußere Faktoren wie Windstärke könnten wichtiger sein als theoretische Modelle.
- Späte Saison: In offenen Stadien bei Kälte oder stürmischen Bedingungen könnte die Field-Position durch Windspielentscheidend werden – vor allem bei knappen Overtime-Szenarien, wo ein einziges Field Goal den Unterschied macht.
Es bleibt eine Minderheiten-Strategie, aber sie unterstreicht: Mit den neuen Overtime-Regeln müssen Coaches deutlich flexibler denken als in den Jahren zuvor.
Fazit: Kein klares Rezept
Die neuen NFL-Overtime-Regeln sorgen für eine völlig neue Dynamik. Wo früher fast immer „Ball zuerst“ die logische Wahl war, hängt die Entscheidung heute von Matchups, Kicker-Tendenzen, Wetter und Spielsituation ab.
ESPNs Umfrage zeigt: Selbst die Analytics-Departments der NFL-Teams sind sich nicht einig. Der Münzwurf in Overtime wird damit zu einem der spannendsten taktischen Elemente der Saison 2025.
👉 Was meinst du: Sollte ein Coach immer das Risiko nehmen und den Ball zuerst verlangen – oder ist die Geduld des zweiten Drives am Ende schlauer?
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